Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die industrielle Landwirtschaft, die schon damals stark von fossilen Brennstoffen und Chemikalien abhängig war, mit dem Versprechen, die gesamte Bevölkerung zu ernähren, ausgebaut und gestärkt. Doch dieses Versprechen wurde nie eingelöst. Im Gegenteil: Die Zahl der Hungernden in der Welt nimmt ständig zu und hat inzwischen 10% der Weltbevölkerung erreicht. Dieses System beschert den multinationalen Agrarkonzernen riesige Profite auf Kosten der Bedürfnisse der Menschen und schafft einen Berg von Lebensmittelverschwendung, während ein immer grösserer Teil der Bevölkerung nicht in der Lage ist, sich menschenwürdig zu ernähren. Eine Umkehr dieser Entwicklung ist dringend notwendig!

Essen ist politisch

Das Recht auf Nahrung ist ein Grundrecht, aber nicht alle Menschen haben den gleichen Zugang zu gesunder und angemessener Nahrung. Dieses Recht auf Nahrung soll sicherstellen, dass alle Menschen ohne Diskriminierung vor Hunger geschützt sind und Zugang zu ausreichender Nahrung von adäquater Qualität haben. Die Ernährung ist jedoch nicht Teil unseres allgemeinen politischen Systems, und eine einzige Zahl sollte uns alarmieren: die steigende Zahl der Empfänger von Nahrungsmittelhilfe in der Schweiz. Nahrung ist ein universelles Recht, das weder Privileg noch Geschenk sein darf. Eine gesunde Ernährung ist auch die Grundlage für eine Sozialpolitik, die Krankheiten vorbeugt, die mit schlechter Ernährung einhergehen können. (Fettleibigkeit, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen usw.).

Für Menschen in prekären Situationen kann Nahrungsmittelhilfe in Notsituationen ein nützliches Instrument sein. Auf lange Sicht ist sie jedoch nicht wünschenswert, da sie es den Betroffenen nicht ermöglicht, mit Zuversicht in eine erstrebenswerte Zukunft zu blicken oder ihre Nahrungsmittel bewusst auszuwählen. Eine Abkehr von der Überverantwortung der einzelnen Konsumentinnen und Konsumenten ist dringend notwendig: Keine individuelle Antwort wird die notwendige Umgestaltung des Ernährungssystems einleiten können.

Deshalb schlagen wir eine globale und kollektive Reaktion vor, damit das Recht auf Nahrung in unserer Gesellschaft als Grundrecht anerkannt wird. Die Versorgung aller Menschen mit hochwertigen und gesunden Lebensmitteln sicherzustellen und gleichzeitig den Landwirten ein angemessenes Einkommen zu garantieren, ist eine soziale und ethische Frage.

Und wenn eine neue soziale Versicherung gegründet würde?

Ausgehend von den Erfahrungen in Frankreich hat sich in der Schweiz ein Netzwerk gebildet, das über eine Soziale Ernährungsversicherung (SEV) nachdenkt. Die SEV soll drei Parameter korrigieren: die Einkommensunterschiede der Bevölkerung (Lebensmittel sind eine Anpassungsvariable im Haushaltsbudget), den besorgniserregenden Rückgang der landwirtschaftlichen Einkommen und die Lebensmittelverschwendung, die durch das derzeitige Agrarsystem hervorgerufen wird.

Nach dem Vorbild der AHV wird die SEV eine neue Säule des Sozialversicherungssystems bilden und auf drei Pfeilern ruhen:

  • Universalität: Das SEV ist obligatorisch, kommt der gesamten Bevölkerung zugute und basiert auf dem Solidaritätsprinzip, d. h. jede/r zahlt Beiträge nach seinen/ihren Möglichkeiten und erhält Leistungen nach seinen/ihren Bedürfnissen.
  • Finanzierung durch Beiträge: Diese Beiträge werden je zur Hälfte von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern gezahlt. Dieses Geld wird auf einer Karte hinterlegt, die monatlich an vereinbarten Orten eingelöst werden kann. Die nicht genutzte Rente ist nicht kumulativ und kann daher nicht als langfristiges Sparguthaben dienen.
  • Demokratische Vertragsgestaltung: Mit der SEV wird die Vertragsgestaltung für Orte und Produkte demokratisch verwaltet. Der Vertrag ist der Mechanismus, der eine kollektive Entscheidung der Bevölkerung über die Art der Produkte, die Art ihrer Herstellung und/oder Verarbeitung (ob sie einem Pflichtenheft entsprechen oder nicht), die Einkaufsorte und die Qualitätskriterien gewährleistet. Auf diese Weise können die wirklichen Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung zum Ausdruck gebracht und die Kontrolle über unser Ernährungssystem zurückgewonnen werden. Wir setzen darauf, dass die Bevölkerung, wenn sie alle Karten in der Hand hat, ihre Ernährung bewusst wählen kann.

Es ist noch ein langer Weg

Unser Projekt für eine soziale Lebensmittelversicherung steht noch ganz am Anfang und wir haben noch einen langen Weg vor uns: Partnerschaften, Treffen, Debatten. Unser SEV-Vorschlag basiert auf dem AHV-Modell. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Errichtung dieser Sozialversicherung sehr lange dauerte: Die verfassungsrechtlichen Grundlagen wurden 1925 geschaffen, die Annahme durch das Volk erfolgte 1947 (nach einer ersten Ablehnung 1931). Und heute stellt niemand mehr die Altersvorsorge in Frage. Wir wissen daher, dass die Entwicklung einer neuen Sozialversicherung möglich ist, so wie es mit der AHV möglich geworden ist. Geduld ist gefragt.

Wir wollen um jeden Preis dem allgegenwärtigen Fatalismus entkommen, der darin besteht, zu sagen, die Dinge sind, wie sie sind, und wir könnten nichts daran ändern. Wir schlagen vor, die Lebensmitteldemokratie weiterzuentwickeln und damit zu experimentieren, denn die Demokratie nutzt sich ab, wenn wir sie nicht nutzen! Wir wollen die stigmatisierende und erniedrigende Nahrungsmittelhilfe beenden, die Achtung des Rechts auf Nahrung sicherstellen, das Agrarmodell umgestalten, die Lebensbedingungen der Landwirt*innen verbessern, die planetaren Grenzen respektieren und für eine bessere und gesündere Ernährung sorgen: Dies sind die klar formulierten Ziele der SEV. Dabei handelt es sich nicht um eine Pauschallösung, sondern um eine wirklich umfassende und ganzheitliche Antwort auf die dringenden Herausforderungen, vor denen das Nahrungsmittelsystem steht. In diesem Sinne ist es wichtig, Lebensmittel mit anderen Aspekten des sozialen und wirtschaftlichen Lebens (Arbeit, Wohnen, Transport usw.) zu verknüpfen, um eine Umgestaltung des Agrar- und Lebensmittelsystems in Betracht zu ziehen.